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Abstract:
Im Mai 1995 verurteilte das Osnabrücker Amtsgericht eine Sozialarbeiterin wegen fahrlässiger Tötung und schrieb damit Rechtsgeschichte. Es war der erste Strafprozess, in dem eine Jugendamtsmitarbeiterin aufgrund – angeblicher – beruflicher Versäumnisse für den Tod eines von seiner Mutter vernachlässigten Kindes verantwortlich gemacht wurde. Seither kommt es immer wieder zu öffentlichkeitswirksamen Strafverfahren gegen Sozialarbeiter in tödlich verlaufenen innerfamiliären Kinderschutzfällen. Die auf fahrlässige Unterlassung gestützten Verfahren haben das deutsche Kinderschutzsystem auf gesetzlicher und fachlicher Ebene verändert und das strafrechtliche wie gesellschaftliche Verantwortungsverständnis im Kinderschutzkontext erweitert. In England ist es dagegen bislang noch zu keinem Strafprozess gegen Kinderschutzfachkräfte gekommen, obwohl solche Fälle dort im Vergleich zu Deutschland noch größere mediale und politische Resonanz erfahren. Beispielhaft steht der Fall „Baby P“, der 2007 zu einer extremen Hetzjagd gegen die betroffenen Kinderschutzfachkräfte geführt hat. Die methodisch auf einen funktionalen Rechts- und Maßnahmenvergleich sowie auf qualitative Interviews mit englischen Experten gestützte Arbeit untersucht die unterschiedliche Entwicklung der Aufarbeitung von fehlgeschlagenen Kinderschutzfällen in Deutschland und England. Sie analysiert, warum es in dem einen Land zu einem strafrechtlichen Umgang mit Versäumnissen der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe gekommen ist, und in dem anderen Land nicht. Weitere Schwerpunkte der Analyse betreffen die Folgen der rechtspolitischen Funktionalisierung des Strafrechts für die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe und die zu schützenden Kinder, mögliche Grenzen der Kriminalisierung, die Rolle des Strafrechts als Aufklärungs-, Vertrauensherstellungs- und Vergeltungsinstanz, seine Bedeutung als Qualitätssicherungsmaßnahme im Kinderschutz, aber auch die Schutzfunktion und andere mögliche Vorteile einer strafprozessualen Aufarbeitung für die Beteiligten.