Abstract
Die Jahre von 1955 bis 1972, in denen die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ein atembe-raubendes Wachstum verzeichnete, waren aus heutiger Sicht ihre formative Phase. Erst durch den wachstumsbedingten Veränderungsschub entstand aus der 1946 bzw. 1948 gegründeten »Auffanggesellschaft« für die mit dem Nationalsozialismus unterge-gangene Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die allseits respektierte Wissenschaftsorganisati-on, die wir heute kennen. Die vorliegende Studie, die Zeitgeschichte und Wissen-schaftsgeschichte im Wege einer Institutionengeschichte der MPG auf produktive Wei-se miteinander verbindet, untersucht diesen Wandelungsprozess in vier Kapiteln.
In Kapitel 1 wird das dynamische Wachstum der MPG in den langen 1960er Jahren nachgezeichnet. Dank ihrer Fertilität und Mutationsfähigkeit konnte die MPG die gro-ßen jährlichen Haushaltszuwächse, die der Einstieg des Bundes in ihre Finanzierung ermöglichte, zu einer wissenschaftlichen Neuausrichtung nutzen. Diese ging mit einem Generationswechsel unter ihren Wissenschaftlichen Mitgliedern einher. Ein weiterer wichtiger Wechsel betraf das Präsidentenamt, das Otto Hahn 1960 an Adolf Butenandt übergab, der zu ihrem wohl einflussreichsten Präsidenten avancieren sollte – aufgrund seiner Rolle in der NS-Zeit aber auch zu ihrem umstrittensten.
In Kapitel 2 wird herausgearbeitet, dass die Kombination von vier Faktoren den Ausschlag für den Wachstumsschub der MPG gab. Erstens ermöglichte die Aufhebung der alliierten Forschungsbeschränkungen auf nationaler Ebene den Wiedereinstieg deutscher Wissenschaftler in Forschungsfelder, die ihnen zuvor verschlossen gewesen waren. Zweitens bescherte das »Wirtschaftswunder« Westdeutschland in den 1950er und 1960er Jahren ungeahnte finanzielle Zuwächse, die Verteilungsspielräume öffne-ten, von denen nicht zuletzt Wissenschaft und Forschung profitierten. Deren Bedeu-tung nahm, drittens, mit dem Sputnik-Schock und dem beginnenden Space Race global deutlich zu, was angesichts der zunehmenden Abhängigkeit der internationalen öko-nomischen Konkurrenzfähigkeit von wissenschaftlicher und technischer Innovations-fähigkeit hohe Transferzahlungen auch an nichtstaatliche Forschungsinstitutionen legi-timierte. Und viertens gelang es der MPG, sich in der Bundesrepublik als die Institution der außeruniversitären Grundlagenforschung zu etablieren, wodurch sie ihren Platz im westdeutschen Wissenschaftssystem dauerhaft sichern konnte.
In Kapitel 3 werden die Folgen des Wachstums analysiert, das die MPG vor zwei Herausforderungen stellte: Zum einen musste sie sich entscheiden, ob sie dem aus der KWG übernommenen »Harnack-Prinzip« treu bleiben, oder dem allgemeinen Trend in Richtung Big Science folgten sollte. Nach langen und kontroversen Debatten beschritt die MPG mit der Gründung des Instituts für Plasmaphysik den zweiten Weg. Zum ande-ren musste die MPG ihr Verhältnis zu den wichtigsten Geldgebern – dem Bund und der Ländergemeinschaft – klären, die ihrerseits Steuerungsansprüche erhoben. Der Kon-flikt mit den Ländern drehte sich um die Frage, wer über die Gründung neuer Institute entscheiden sollte: die Wissenschaft oder die Geldgeber. Im Streit mit dem Bund ging es um die Verfügungsrechte über die immens teuren Forschungsanlagen. Da es der MPG gelang, den im föderalistischen System der Bundesrepublik angelegten Dualismus zwischen Bund und Ländern auszunutzen und ihre beiden Financiers gegeneinander auszuspielen, konnte sie sich letztlich in beiden Konflikten durchsetzen und trotz ihrer finanziellen Abhängigkeit von der öffentlichen Hand ihre Autonomie in der For-schungspolitik weitgehend bewahren.
In Kapitel 4 wird der Frage nachgegangen, wie es der MPG gelang, den enormen Wachstumsschub zu verarbeiten. Ihre Leitungsorgane reagierten auf die dadurch be-wirkten Veränderungen der MPG mit einer Reihe von Reformen der Satzung, die als ein zusammenhängender Reformprozess interpretiert werden. Diese Satzungsände-rungen waren Spiegelbilder der Wandelungsprozesse, die die MPG zwischen 1955 und 1972 durchlief, zugleich aber auch Manifestationen von (äußerem und innerem) Ver-änderungsdruck, auf den die MPG reagieren musste. So wirkte insbesondere »68« in die MPG hinein und half auch dort, verkrustete Strukturen zumindest ein Stück weit aufzubrechen. Die Verbindung zu außerparlamentarischer Opposition und Studenten-bewegung erklärt allerdings auch, warum die letzte Etappe des Reformprozesses be-sonders konfliktreich verlief. Dabei stieß die MPG zwar einerseits an strukturelle Gren-zen ihrer Reformfähigkeit, die durch ihre Governance bedingt waren. Andererseits ha-ben sich die Reformen der langen 1960er Jahre in der Praxis bewährt – und zwar so sehr, dass sich die satzungsmäßige Gestalt der MPG bis heute nicht mehr wesentlich verändert hat.