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22.04.2013 � 19:15 Uhr
Die Gesetze der weltweiten Wirtschaft  scheinen sich zu wandeln. (Bild: Stock.XCHNG / Steve Gray)Die Gesetze der weltweiten Wirtschaft scheinen sich zu wandeln. (Bild: Stock.XCHNG / Steve Gray)

Wenn politische Beschl�sse durch weltweite Marktwirtschaft ersetzt werden

Wolfgang Streeck: "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus". Suhrkamp Verlag

Von Gerhard Klas

Wolfgang Streeck, Direktor des Max Planck Instituts f�r Gesellschaftsforschung in K�ln, hat die sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen erforscht. In seinem Buch analysiert der Soziologieprofessor die aktuelle Krise des Euro.

"Die Hoffnung, dass man durch Reformen innerhalb des Systems viel bewirken k�nnte, war vielleicht etwas �bertrieben�"

� sagt Wolfgang Streeck r�ckblickend �ber die von ihm mitverfassten Reformprogramme zur Besch�ftigungspolitik, die Ende der 90er-Jahre entstanden sind. In seinem neuen Buch geht der ehemalige Student der Frankfurter Schule zur�ck noch weiter zur�ck zu den Wurzeln und kn�pft an die Theorien der 70er-Jahre zum Sp�tkapitalismus an.

Die Krise des Sp�tkapitalismus in den 1970er-Jahren musste auch denen auffallen, die kein Interesse daran hatten, dass der Sp�tkapitalismus zugrunde ging oder sich selbst zugrunde richtete. Auch sie sp�rten die Spannungen, die von der Krisentheorie mehr oder weniger zutreffend diagnostiziert worden waren und reagierten auf sie. Von heute aus gesehen erscheinen diese Reaktionen als ein mittelfristig (�) erfolgreiches Kaufen von Zeit mit Hilfe von Geld (�) zur Entsch�rfung potenziell destabilisierender sozialer Konflikte, zun�chst mittels Inflation, dann durch Staatsverschuldung, dann durch Expansion der privaten Kreditm�rkte und schlie�lich - heute - durch Ankauf von Staats- und Bankschulden durch die Zentralbanken.

Die Krise hatte also nicht, wie so oft kolportiert, erst 2008 in den USA begonnen. Vielmehr habe die Kapitalseite schon fr�h einseitig das Zwangsb�ndnis zwischen Kapitalismus und Demokratie im Westeuropa der Nachkriegszeit aufgek�ndigt. Dieser Logik folgt auch das Konzept des europ�ischen Binnenmarktes und der Einheitsw�hrung der Europ�ischen Union, dem Wolfgang Streeck mehrere spannende Kapitel widmet. Sp�testens seit den 90er-Jahren werde die Europ�ische Union in ein nichtdemokratisches, supranationales Regime umgebaut, um die Reste der nationalstaatlichen Demokratie in den Mitgliedsstaaten zu �berwinden. Wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen sind nicht prim�r Sache des direkt gew�hlten EU-Parlaments, sondern werden �ber die EU-Kommission, den Europ�ischen Rat und die Europ�ische Zentralbank gesteuert.

Wolfgang Streeck:
"Es scheint einen Imperativ zu geben: Die Forderungen des Finanzsektors an die Staaten m�ssen absoluten Vorrang haben vor den Forderungen der B�rger an die Staaten."

Den Preis daf�r zahlten abh�ngig Besch�ftigte, Erwerbslose, Rentner und Kranke, wie Wolfgang Streek nicht nur anhand des aktuellen Beispiels Griechenland zeigt. Vor mehr als zehn Jahren folgte das Land den EU-Forderungen nach Steuersenkungen.

Wolfgang Streeck:
"Als Griechenland in die Europ�ische W�hrungsunion eintrat, 2001, haben die in demselben Jahr den Spitzensatz Ihrer Unternehmenssteuern von 40 auf 20 Prozent runtergesetzt. Und haben das, was ihnen da an Steuereinnahmen entgangen ist - man kann auch sagen: wo sie verzichtet haben auf Steuereinnahmen - aus diesen billigen Krediten ausgeglichen, die ihnen die Herrschaften von Goldman-Sachs frei ins Haus geliefert haben. Da wurden dann Steuern abgebaut und daf�r das Land verschuldet, und heute besteht die Erwartung, dass die Rentner in Griechenland sich ihre Renten k�rzen lassen, damit die Halbierung der Spitzens�tze der Unternehmenssteuer nachtr�glich finanziert werden kann, indem die daf�r aufgenommenen Schulden sozusagen jetzt von den kleinen Leuten beglichen werden m�ssen. Das ist alles ein kompletter Irrsinn, und ich glaube, mittlerweile wird das auch den Leuten immer klarer."

Alan Greenspan, ehemaliger Pr�sident der US-Zentralbank, dient Wolfgang Streeck als Kronzeuge: Politische Beschl�sse seien durch die weltweite Marktwirtschaft ersetzt worden. Ausdruck dessen sei unter anderem die enge Personalunion zwischen Markt und Staat, die sich zum Beispiel in den Amtstr�gern Mario Draghi, dem Pr�sidenten der Europ�ischen Zentralbank sowie den zwischenzeitlichen Krisenverwaltern Mario Monti in Italien und Lucasoukas Papademos in Griechenland Italien manifestiert: Sie alle waren zuvor Top-Manager der US-Bank Goldman Sachs. Mit Polemik w�rzt Wolfgang Streeck seine Ausf�hrungen �ber die �ffentliche Darstellung der Europ�ischen Union.

Was der Nachrichten verfolgende Zuschauer sieht, sind immer neue Inszenierungen von Entscheidungskraft und Entscheidungsmacht, dargeboten von Virtuosen auf dem Gebiet der vertrauensbildenden Ma�nahmen und begleitet von einer Kakofonie von "Experten" jeder Art, die lautstark wechselnde Patentrezepte mit immer k�rzeren Verfallsdaten anpreisen.

Der dabei immer wieder postulierten Alternativlosigkeit der Politik mag Wolfgang Streeck nicht folgen. Er weist zu Recht darauf hin, dass die Wirtschaft ein soziales Handlungssystem und keineswegs ein "Naturgesetz" sei. Dem - Zitat - "frivolen Experiment" des Euro erteilt er dabei eine Absage.

Ein Ausstieg aus der europ�ischen Einheitsw�hrung k�me einem Einstieg in eine Politik der Grenzziehung gegen�ber der sogenannten "Globalisierung" gleich. Wer eine "Globalisierung" ablehnt, die die Welt einem einheitlichen, Konvergenz erzwingenden Marktgesetz unterwirft, kann nicht an einem Euro festhalten wollen, der genau dies mit Europa tut.

Wolfgang Streeck nimmt sich in der besten Tradition der Frankfurter Schule das Recht heraus, Kritik zu �ben - ohne selbst ein fertiges Patentrezept f�r eine Alternative vorzulegen. Denn die Voraussetzungen, eine solche auf demokratischer Grundlage zu entwickeln, sei zun�chst einmal ein lautes und deutliches nein.

Wolfgang Streeck:
"Ich glaube, dass das zurzeit die einzige Kommunikationsm�glichkeit ist, die die Bev�lkerungen gegen�ber diesen Eliten haben. Die m�ssen einfach sagen: Wir wollen das nicht mehr. Wenn Sie sich da einen Schlips umbinden und gehen in die Gesch�ftsr�ume der Europ�ischen Zentralbank und sagen: Ich habe aber jetzt eine L�sung daf�r und m�chte die bitte Herrn Draghi vortragen - das k�nnen Sie vergessen, das brauchen Sie nicht zu machen. Aber ich kann mich erinnern, als die Occupy-Bewegung in Frankfurt ihre Demonstration machten, ein paar Leutchen waren das eigentlich nur, aber da waren mindestens dreimal so viele Polizisten unterwegs wie Demonstranten. Und der Schrecken dar�ber, dass Leute jetzt sagen - so, wir haben genug davon, der sa� ungeheuer tief. Und ich denke, davon brauchen wir mehr."

Wolfgang Streeck bereichert seine Analyse mit empirischem Material und prognostiziert einen weiteren Abbau des Sozialstaats in den Mitgliedsstaaten der EU, ja, er warnt sogar vor der - Zitat - "Diktatur einer kapitalistischen Marktwirtschaft". Der Soziologe hat eine wichtige Verteidigungsschrift der Demokratie gegen den Kapitalismus vorgelegt - zwei Gesellschaftsmodelle, die f�r den Wissenschaftler nicht miteinander vereinbar sind.

Wolfgang Streeck
Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen
Kapitalismus, Suhrkamp Verlag, 271 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 978-3-518-58592-4