Lili - Heft 152
Zeitschrift für
Literaturwissenschaft und Linguistik
Gefördert aus Mitteln der Universität Siegen
Thema: Ist Schönheit messbar?
Herausgeber dieses Heftes:
Wolfgang Klein
Inhalt
Wolfgang Klein
Wolfgang Klein
De gustibus est disputandum!
De gustibus est disputandum!
Holger Höge
Keine Schönheit ohne Maß
No beauty without measure
Peter Deuflhard
Was ist ein schönes Gesicht ? Auf der Suche nach Kriterien
What is a beautiful face? Searching for criteria
Ulrich Konrad
Von den erogenen Zonen des Gehörs, oder: Schöne Stellen in der Musik
About the erogene zones of audition, or: Beautiful passages in music
Haimo Schack
Schönheit als Gegenstand richterlicher Beurteilung
Beauty as an object of jurisdiction
Manfred Spitzer
Neuroästhetik – Gibt es eine Gehirnforschung zum Wahren, Schönen und Guten?
Neuroaesthetics – Is there a brain research on what ist true, beautiful and good?
Labor
Michael Lommel
Erinnerung und Dissolve: Zum Gedächtniskino in James Joyce’ Erzählung The Dead
Memory and Dissolve in James Joyce’s The Dead
Martin Maurach
Krieg, Kairos und Kunst. Albrecht Fabri und das Problem der ästhetischen Autonomie
War, Art, and the Kairos. Albrecht Fabri and the question of an autonomous art
Manuela Hofbauer-Horn
Linguistische Betrachtung von Büchern für Kleinkinder
Little children’s books – a linguistic perspective
Eingesandte Literatur
Wolfgang Klein
Einleitung
Our meddling intellect
Mis-shapes the beauteous forms of things:
We murder to dissect.
Wordsworth
Vor manchen Fragen scheut die Wissenschaft zurück. Dazu zählt fast alles, was mit Werten und Werturteilen zu tun hat. Nun haben aber die meisten Menschen eine – oft sehr entschiedene – Meinung darüber, ob eine Tat gut oder böse, ein Gemälde schön oder hässlich, ein Kleid elegant oder scheußlich, ein Roman Kitsch oder große Literatur ist. Solche Werturteile sind oft von Person zu Person, von Zeit zu Zeit verschieden, und nicht zuletzt daher scheinen sie sich einer wissenschaftlichen Erforschung zu entziehen. Aber kann man wirklich nicht mehr darüber sagen, als dass die Urteile nun einmal schwanken? Sie schwanken zwar, aber sie schwanken nicht willkürlich. Es muss Gründe dafür geben, weshalb jemand etwas schön oder hässlich, gut oder schlecht findet, und auch dafür, weshalb andere eine andere Meinung haben. Was sind diese Gründe? Liegen sie in den Eigenschaften des Dinges, das bewertet wird, liegt sie in den Eigenschaften der Person, die bewertet, liegt sie in den wechselhaften Beziehungen, die zwischen Ding und Person bestehen?
Nun fehlt es in der Geschichte des abendländischen Denkens zwar nicht an Versuchen, das Wesen des Schönen zu bestimmen, wohl aber an Versuchen, die ästhetischen Urteile, die Menschen fällen, mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften zu untersuchen. Ein Grund dafür ist sicher, dass es viel angenehmer ist, über das Wesen einer Sache nachzudenken, als sich auf den mühseligen, von Irrtümern und Fehlschlägen gekennzeichneten Weg der Empirie zu begeben. So stehen wir denn voller Bewunderung vor den vielen ästhetischen Theorien von Plato bis Thomas, von Kant bis Heidegger, gewaltigen Zeugnissen denkerischer Kraft, die freilich, so scheint mir, nicht einmal die elementarsten Beobachtungen erklären können – beispielsweise den Umstand, weshalb die meisten Menschen einen Panther für schöner halten als einen Pavian. Freilich tun es nicht alle; aber auch dies ist ein Faktum, das keine mir bekannte Theorie aus dieser reichen Tradition überzeugend erklären kann.
Ein zweiter Grund ist ganz anderer Art. Noch Alfred Brehm hat über eben den Pavian bemerkt, dass er von Aussehen so hässlich sei wie von Charakter schlecht. Solche Aussagen halten wir heute für unwissenschaftlich – wir sollen das Aussehen und das Verhalten eines Lebewesens objektiv beschreiben. Aber wenn wir das eine oder das andere moralisch oder ästhetisch bewerten, verlassen wir den Boden der ernsthaften Wissenschaft. Wir dürfen, in den bekannten und gleichsam endgültigen Worten des Philosophen George Moore, nicht Sollensaussagen von Seinsaussagen ableiten. Er bezog sich dabei auf ethische Aussagen – aber das Verdikt gilt in den Augen vieler ebenso für die Welt des Ästhetischen. Nun ist es aber so, dass die Menschen ständig solche Urteile fällen, dass diese Urteile ihre alltäglichsten Gefühle und Handlungen bestimmen – warum sollte es grundsätzlich unmöglich sein, die Gründe dieser Urteile zu erforschen?
Drittens weiß halt niemand so recht, wie man das Schöne – und ebenso das Gute – mit wissenschaftlichen Methoden erforschen soll. Die Gegenstände, denen unser ästhetisches Urteil gilt, sind höchst unterschiedlich – wir finden Landschaften, Tiere, Gesichter, Gedichte, Autos, Gemälde, den Fortschritt der Demokratie weltweit, eine mathematische Theorie, kurzum, alles – mehr oder minder schön, und wir zögern nicht, diese Meinung zum Ausdruck zu bringen. Aber wir wissen nicht einmal, ob das Wort “schön” in all diesen Fällen dasselbe bedeutet, ob es zwischen der Schönheit eines herbstlichen Waldes und der Schönheit von Miss Universum 2008 überhaupt eine Gemeinsamkeit gibt. Und die ästhetischen Urteile schwanken, von Person zu Person, von Zeit zu Zeit: Nichts scheint relativer als das, was die Menschen für „schön” halten. Aber dass ein Gegenstandbereich von schier endloser Variabilität gekennzeichnet ist, besagt ja nicht, dass hinter dieser Variabilität nicht bestimmte Prinzipien liegen. Dies ist bei der Erforschung der uns umgebenden Natur nicht anders als bei der Erforschung dessen, was die Menschen für schön halten.
Nicht zuletzt haben wir eine gewisse Scheu, das Schöne auf den Seziertisch der Wissenschaft zu legen. Wie Wordsworth sagt: „We murder to dissect”. Aber gibt es wirklich einen solchen Heisenbergschen Effekt, der dazu führt, dass sich das Schöne verflüchtigt, zerstört wird, weil wir es von Nahem beobachten und vermessen? Die Untersuchung der Gründe, aus denen wir etwas für schön, etwas anderes für hässlich empfinden, und der Gründe, weshalb diese Empfindungen bei den Einzelnen so schwanken, ist keine Vivisektion. Sie lassen die Dinge, die wir bewerten, unverändert. Freilich mag die Untersuchung selbst das Urteil der Untersuchenden ändern. Aber das wäre dann schon eine wesentliche Erkenntnis – es würde uns etwas darüber, wie solche Urteile zustande kommen und unter welchen Bedingungen sie sich ändern.
Dieses Heft der „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik” geht, anders als alle vorausgehenden, auf eine Tagung zurück - das 12. Berliner Kolloquium der Daimler-Benz-Stiftung, das am 8. Mai 2008 in Berlin stattfand. Die Vorträge wurden für den Druck teils erheblich überarbeitet; so hat Ulrich Konrad in seinem Vortrag über schöne Stellen in der Musik den „chill-factor” einer solchen Stelle nicht nur erörtert, sondern schlagend vorgeführt; das lässt sich im Druck nicht wahren. Der Beitrag von Hans-Dieter Futschik, dem Designdirektor der Daimler AG, über Prinzipien des Autodesigns wurde leider nicht rechtzeitig fertig; er soll im nächsten Heft unter der Rubrik “Labor” erscheinen. Die Herausgeber möchten sich bei der Stiftung und ihren Mitarbeitern sehr herzlich für ihre Unterstützung bedanken.
Summaries Lili - 152
Wolfgang Klein: Summary
De gustibus est disputandum!
There are two core phenomena which any empirical investigation of beauty must account for: the existence of aesthetical experience, and the enormous variability of this experience across times, cultures, people. Hence, it would seem a hopeless enterprise to determine ‘the very nature’ of beauty, and in fact, none of the many attempts from the Antiquity to present days found general acceptance. But what we should be able to investigate and understand is how properties of people, for example their varying cultural experiences, are correlated with the properties of objects which we evaluate. Beauty is neither only in the eye of the observer nor only in the objects which it sees - it is in the way in which specific observers see specific objects.
Holger Höge: Summary
No beauty without measure
An overview is given on the development of empirical aesthetics at hand of its philosophical basis and psychological experiments (Fechner 1876; Höge 1997). The golden section was believed to be a central law of aesthetics but seems to lack stability over time as the results of Fechner could not be reproduced: new experiments showed a maximum of preference for square proportions but not for the golden section.
Objects of aesthetic interest are widely distributed and not limited to the arts. Human beauty as well as everyday-life material can be judged according to standards of psychological measurement. The study of the human aesthetic experience seems to be more appropriate than the study of objects as the numerical aesthetics failed to show what can be used as a standard element in the respective formulas. Hence, psychological inquiries into the field of aesthetic behavior and experience seem to be more promising to solve the secret of this unique human cognitive functioning. Semantic differential scaling is mostly used to measure the reaction of recipients. Difficulties, however, do arise through the multifaceted aspects of aesthetic stimuli, especially with different layers of meaning in works of art.
Peter Deuflhard: Summary
What is a beautiful face? Searching for criteria
Over several years, the author and his group have been engaged in patient-specific mathematical modelling and operation planning of face surgery. This work naturally raises the question of what constitutes a beautiful face - a question which has to be asked time and again for each patient. This paper examines the background of this question: What can philosophy, ethnology, psychology or evolutionary biology tell the mathematician and the information scientist on what the criteria for beautiful and “a beautiful face” are?
Ulrich Konrad: Summary
About the erogene zones of audition, or: Beautiful passages in music
What is beautiful in music may not be in the eye of the beholder - but it unfolds in the ear of the listener. Now, the way in which the ear perceives and appreciates music may be very different, perhaps as different as the ways in which the ear processes the specifics of a particular language: we learn to evaluate something as beautiful. And in general, it is not a musical work as a whole which we feel to be beautiful, but selected passages of such a work. The author illustrates this with a scrutinized analysis of a passage from Verdi's La Traviata which almost infallibly leads to a ‘chill’ for listeners in this particular musical tradition.
Haimo Schack: Summary
Beauty as an object of jurisdiction
‘Beauty’ or ‘beautiful’ are not terms of German legal language. Still, courts are sometimes confronted with the difficult task to decide on issues of aesthetics. The author discusses two groups of such cases: deviations from a set norm, for example the earlier state of a building or the expected result of a cosmetic operation, or cases in which beauty - or more often its counterpart, ugliness - is in itself an issue, for example if something is supposed to meet the criteria of a work of art. In general, judges try to bypass such decisions - a strategy which, however, is not always possible; then, the only solution is to explicate the subjective criteria on which the verdict is based.
Manfred Spitzer: Summary
Neuroesthetics - Is there a brain research on what is true, beautiful, good?
Ever since the Antiquity, philosophers stated a close connection between ‘true’, ‘beautiful’, and ‘good’. In this paper, the authors discusses what recent brain research has to tell us about this issue. Somewhat surprisingly, there is indeed some evidence for such a connection - which may reflect the overarching factor of positive evaluation which goes with these notions.
Labor
Michael Lommel: Summary
Memory and Dissolve in James Joyce’s The Dead
In my paper I examine the connection between memory and dissolve in The Dead, the final short story in James Joyce’s Dubliners. First I contrast the two types of memory presented in the two main characters of the story, Gabriel and Gretta Conroy, with each other: mémoire volontaire and mémoire involontaire, visually and acoustically triggered memory. Then I analyse the end of the story where the expression ‘dissolving’ is used at a crucial point. In film editing the term ‘dissolve’ refers to a transition between two images: one image fades out – or dissolves – and is replaced by another image. Using an essay written by Patrick Roth as an example I extend the meaning of to dissolve to a mythological, psychological and cultural sense – as a superposition of life and death, the past and the present, consciousness and unconsciousness, form and material, author and work. Since Gabriel Conroy remembers the death of another figure in this passage, the hidden line between the world of the living and the dead becomes permeable.
Martin Maurach: Summary
War, Art, and the Kairos. Albrecht Fabri and the question of an autonomous art
The aim of this essay is to show how the most important elements of Albrecht Fabri’s theory of an autonomous work of art have been shaped by the formalisation of two kinds of time experience during war: namely, monotony, and choc. Monotony may create self-reference, yet it needs the Kairos of the choc to allow for an aesthetic experience. It only apparently opens the chance of a reconciliation of antinomies because it may lead to blind acts of exclusion. War letters by Siegbert Stehmann (1912-1945) remind us of the possibility of keeping both sides of an ethical opposition in mind. Nevertheless, Fabri is lead to a purely self-referential aesthetics of literary and artistic material by the formalisation of war experience as is shown by his writings about T.E. Lawrence, in contrast with E.G. Winkler’s. The case of Benn makes one ask in how far the restless production of autonomous art has to be seen as a sublimation of his and other’s decline to explicitly revise their political views from 1933 in later years. Most fundamental theses of Fabri are present in his pre-war essays already and seem just to have been enhanced by war experience.
Manuela Hofbauer-Horn: Summary
Little children’s books – a linguistic perspective
The time span of attention of children between the age of three to six is much lower as it is of older children or adults. Therefore the structure of children’s books has to be adapted to the speech and knowledge of the audience addressed. The sentence structure is simple and reminds of the language used by little children. The proportion between direct speech and text is nearly balanced. The names of the characters are mostly speaking names, often based on animal names. In order to understand the stories better, they have got a visual background. This means that there can be an equal arrangement of illustrations and text as well as a dominance of the illustrations. Onomatopoeia and interjections animate the text. They connect the experience of everyday life with the stories. Neologisms in little children’s books are mostly built up in a simple way for an easier understanding and they can be compounds as well as explicit derivations with suffixes of diminutives and amalgamations. Based on a functional-cognitive grammar one can say that a continuously input of linguistic information, which can be found in the little children’s books, evolves and develops the grammatical system.
Adressen der Herausgeber
Prof. Dr. Rita Franceschini, Libera Università di Bolzano/Freie Universität, Bozen, Piazza Sernesi, 1/Sernesiplatz 1, I-39100 Bolzano/Bozen, E-Mail: r.franceschini@unibz.it
Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs, Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1. – Germanistik, Postfach 15150, D-66041 Saarbrücken, E-mail: w.haubrichs@mx.uni-saarland.de
Prof. Dr. Wolfgang Klein, Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Postbus 310, NL-6500 AH Nijmegen, E-mail: wolfgang.klein@mpi.nl
Prof. Dr. Ralf Schnell, Universität Siegen, Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft, Postfach 10 12 40, D-57068 Siegen, E-mail: schnell@germanistik.uni-siegen.de
Adressen der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Peter Deuflhard, Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik, Takustrasse 7, D-14195 Berlin, E-mail: deuflard@zib.de
Prof. Dr. Holger Höge, Carl von Ossietzky Universität Osnabrück, Institut für Psychologie, Postfach 2503, D-26111 Oldenburg, E‑mail: holger.hoege@uni‑oldenburg.de
Manuela Hofbauer-Horn, Fernpaßstr. 31, D-81373 München, E-Mail: familie@hofbauer-horn.de
Prof. Dr. Ulrich Konrad, Universität Würzburg, Institut für Musikwissenschaft, Residenzplatz 2a, D-97070 Würzburg, E-mail: ulrich.konrad@mail.uni-wuerzburg.de
PD Dr. Michael Lommel, Universität Siegen, SFB/FK 615 Medienumbrüche, Am Eichenhang 50, D-57068 Siegen, E-Mail: m.lommel@netcologne.de
Dr. Martin Maurach, Große Scharrnstr. 31, D-15230 Frankfurt (Oder), E-mail: Maurach@t-online.de
Prof. Dr. Haimo Schack, Institut für Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstraße 4, D‑24098 Kiel, E-Mail: hschack@law.uni‑kiel.de
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Leimgrubenweg 12-14, D-89075 Ulm, E-mail: manfred.spitzer[at]uni‑ulm.de