Wurde die gegenwärtige Krise des demokratischen Kapitalismus schon in
den 70er-Jahren vorprogrammiert? Diese These des Soziologen Wolfgang Streeck
wird in den Sozialwissenschaften derzeit diskutiert. Uneinig ist sich die Zunft
nicht zuletzt über mögliche politische
Gegenmaßnahmen.
"Sehr beunruhigend ist, dass diese Krisen immer
schwerwiegender geworden sind, 2008 ist jetzt fast fünf Jahre her - die
amerikanische Wirtschaft stockt vor sich hin, und im Mittelmeerraum ist es nun
wirklich dramatisch geworden."
Wolfgang Streeck,
Soziologe
"Unsere politischen Eliten auf
nationaler wie auf europäischer Ebene stellen sich dar als hilf- und ratloses
Führungspersonal, dem es nicht gelingt, die Eurokrise und die damit verbundene
Schuldenkrise in Europa in den Griff zu bekommen."
Claus Offe,
Politikwissenschaftler und Soziologe
"Ich
nenne es eine Regierungspolitik nach dem Matthäusprinzip, weil es im Evangelium
des Matthäus heißt: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer wenig hat, dem wird das
Wenige auch noch genommen."
So Christoph Butterwegge,
Politikwissenschaftler. Politik- und Sozialwissenschaftler diskutieren über die
Schuldenkrise in der Eurozone, ihre Ursachen und die Gegenmaßnahmen der Politik.
Dabei ist das aktuelle Buch mit dem Titel "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des
demokratischen Kapitalismus", das der Soziologe Wolfgang Streeck, Direktor des
Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung jüngst veröffentlicht, hat ins
Zentrum der Diskussion gerückt. Streeck geht in seiner Ursachenforschung weit
hinter die Einführung des Euro zurück, bis zur Wirtschaftskrise der 70er-Jahre
des letzten Jahrhunderts. Dort lägen die Wurzeln der heutigen Probleme, so sieht
es auch Claus Offe:
"Ein großer Wendepunkt
der Nachkriegsgeschichte sind die Jahre 1974 /75 nach der Aufkündigung von
Bretton Woods als einem System der internationalen Regulierung des Handels und
der Finanzen, die einsetzende Wirtschaftskrise mit kontinuierlich wachsender
Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit, das ist ein Einschnitt, insofern folge
ich der brillanten Analyse von Wolfgang Streeck durchaus. Mit der
Wirtschaftskrise Mitte der 70er-Jahre sei eine Dynamik in Gang gekommen, von
Inflation, Arbeitslosigkeit - wir haben es dann mit einem kontinuierlichen
Anwachsen der Gesamtverschuldung der Ökonomien, der OECD-Welt insgesamt zu tun,
aber auch der EU, insbesondere mit einem steilen Anwachsen der staatlichen
Verschuldung."
Wolfgang Streeck begreift es als Wandel vom Steuer-
zum Schuldenstaat. Und beschreibt die Entwicklung so:
"Staatliche
Defizite setzen ein, weil dann natürlich auch Sozialausgaben wachsen, wenn die
Arbeitslosigkeit wächst und so weiter. Diese ganze Phase ist eine Phase immer
stärker wachsender Verschuldung, nicht nur Staatsverschuldung, sondern alle
Sektoren zusammengenommen und am meisten in der Finanzwirtschaft - um ein
Beispiel zu geben: In Amerika, wenn Sie alle Schulden addieren, private
Haushalte, Staat, Unternehmen, Finanzsektor nehmen, dann war das 1970 eine
Summe, die viereinhalb mal so groß war wie das Sozialprodukt. Wenn Sie die Kurve
angucken, dann sehen Sie, dass von da an diese Kurve immer weiter steigt, heute
liegt sie beim Neunfachen, also verdoppelt über 40 Jahre hinweg. Und es ist
überhaupt nicht zu sehen, wie das aufhört. Es geht immer weiter. Ralf Dahrendorf
hat, bevor er starb, dafür den Begriff des Pumpkapitalismus geprägt. Und ein
Wirtschaftssystem, das in dieser Weise auf Versprechungen zukünftiger Produktion
beruht - denn Kredit ist nichts anderes: Ich werde etwas herstellen, was ich dir
dann gebe, - das ist in Schwierigkeiten."
In den 80er-Jahren
befreite die Politik die Kräfte des Marktes, weil sie sich von einem
entfesselten Marktkapitalismus schnellen wirtschaftlichen Aufschwung versprach.
Diese neoliberale Revolution, wie Streeck sie nennt, ist in Europa vor allem mit
dem Namen der gerade verstorbenen britischen Premierministerin Margret Thatcher
verbunden. Doch die Deregulierung des Marktes bedeutete harte Einschnitte ins
soziale Netz, sie wurden auch in Deutschland, allerdings nicht ganz so extrem
und mit Verspätung nachgeholt. Denn der Sozialstaat mit seinen Errungenschaften
erfüllte auch eine wichtige politische Funktion, solange es die DDR und den
sozialistischen Ostblock gab, betont Christoph Butterwegge,
Politikwissenschaftler an der Kölner Universität.
"Weil
hier an der Systemgrenze zwischen Ost und West vor allen Dingen die Aspekte des
Sozialstaats in den Vordergrund gerückt wurden, die eben nach Osten hin zeigen
konnten: Auch im Kapitalismus ist es möglich, dass Arbeiter gut wohnen, dass sie
gut leben, dass sie am Wohlstand dieser Gesellschaft einigermaßen beteiligt
werden. Nach dem Sieg über den realexistierenden Sozialismus wurde dem
Sozialstaat der Krieg erklärt: Der Sozialstaat, so wie man ihn bis dahin kannte,
den gab es nun bald nicht mehr, und die Strukturveränderungen, die er erlitten
hat in Richtung Agenda 2010 und Hartz IV, die waren so gravierend, dass heute
die Gesellschaft sich mehr und mehr spaltet in Arm und Reich, und wir dadurch
bedingt nicht nur einen anderen Sozialstaat, sondern wenn man so will auch eine
andere Gesellschaft haben."
Christoph Butterwegge hat "Krise und
Zukunft des Sozialstaats" - so auch der Titel seines Buches - untersucht,
insbesondere forscht er zum Thema Armut in Deutschland. Die Zahlen und
Ergebnisse des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung
interpretiert Butterwegge weit kritischer als diese selbst es tut. Die Schere
sozialer Ungleichheit gehe in Deutschland immer weiter auseinander, das zeige
sich vor allem an der Vermögensverteilung. Christoph Butterwegge:
"Die ärmere Hälfe der Bevölkerung nennt nur etwas über ein
Prozent des Gesamtvermögens ihr eigen und das bedeutet, mehr als 40 Millionen
Menschen in der Bundesrepublik verfügen über so wenig, dass man sagen kann, sie
leben von der Hand in den Mund. Denn wer kein Vermögen hat, der ist letztlich
nur eine Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt und das spaltet
unsere Gesellschaft mehr und mehr dieser Niedriglohnsektor als Haupteinfallstor
von Erwerbsarmut und dann zwangsläufig späterer Altersarmut, der weitet sich
immer mehr aus, umfasst inzwischen fast ein Viertel der
Beschäftigten."
Bis heute sind die Arbeitsmarktreformen der Agenda
2010, die Hartz-IV-Regelungen umstritten. Ist es nicht eher ein Abbau als ein
Umbau des Sozialstaates? Dabei hat Deutschland aufgrund seiner hohen
Produktivität und einer starken Exportwirtschaft relativ günstige
Rahmenbedingungen. Viel härter trifft es die ärmeren Regionen und Länder
Südeuropas mit ihrer geringeren Produktivität. Und hier erweist sich die
Einführung des Euro als fataler Fehler. Kurzzeitig konnten sich dort alle - ob
Staat, Unternehmen oder Privatleute - über billige Kredite freuen. Dann aber
schnappte die Falle zu. Sie können die Schulden nicht bedienen, weil ihre
Wirtschaft nicht konkurrenzfähig ist. Vor der Einführung des Euro hatten diese
Länder einen Ausweg: Sie konnten ihre Währung abwerten, dadurch ihre Produkte
auf dem Weltmarkt billiger und also konkurrenzfähiger machen. Das geht mit der
Einheitswährung nicht mehr. Deshalb müssen sie nun, so nennt Streeck es in
seinem Buch, eine innere Abwertung ihrer Lebensverhältnisse vornehmen. Die so
genannte neoliberale Rosskur: Löhne runter, Renten runter und staatliche
Dienstleistungen streichen. Besonders hart, so Wolfgang Streeck, trifft es die
junge Generation:
"Das ist weitgehend
bekannt, dass mittlerweile in Spanien und Griechenland 50 Prozent der, ich
glaube, 16-bis 26-Jährigen arbeitslos sind. Wobei man nicht weiß, wie die da mal
rauskommen sollen. Und man muss ja sagen, dass für eine Generation, die zehn
Jahre lang davon betroffen ist, wenn man sich jetzt die junge Generation anguckt
- da gehen Arbeitsfähigkeiten verloren, soziale Integration geht verloren, da
können keine Familien gegründet werden, da wohnen die bei ihren Eltern in den
kleinen Wohnungen, die es da so gibt, - also es ist eine Katastrophe. Und da
kann man nicht einfach sagen: Es ist nur
Jugendarbeitslosigkeit."
Beeinträchtigt sind in Griechenland auch
buchstäblich lebenswichtige Versorgungseinrichtungen wie das Gesundheitswesen.
Claus Offe:
"Die Arzneimittelversorgung
stockt, die elementaren Dienstleistungen von Krankenhäusern sind nicht
selbstverständlich zu bekommen, weil das Gesundheitssystem zusammenbricht, also
da ist an vielen Fronten, nachdem Löhne und Renten und öffentliche
Dienstleistungen gekürzt worden sind unter dem Austeritätsdikat, die Lage
schlechter geworden, perspektivloser."
Was kann man tun? Wolfang
Streeck meint, dass die Politik gegenüber den Kräften des globalisierten
Finanzmarktes, die sie selbst entfesselt hat, wie Goethes Zauberlehrling ins
Hintertreffen geraten sei. Die Politik betreibt kurzfristiges Krisenmanagement,
ihre scheinbaren Lösungen, - immer neue Kredite und Garantien - bewältigen das
gegenwärtige Problem nur, indem sie das nächstgrößere vorbereiten. Sie haben
lediglich Zeit gewonnen, Zeit gekauft. Denn es gilt: Nach der Krise ist vor der
Krise.
Christoph Butterwege beurteilt das anders. In seinen Augen bleibt
die Politik sehr wohl handlungsmächtig und frei in der Wahl, welche Prinzipien
oder Interessen sie in ihren Entscheidungen verfolgen will:
"Natürlich
hat die ökonomische Entwicklung bestimmte politische Entscheidungen mit
determiniert, aber es gibt auch immer politische Handlungsspielräume. Politik
und insbesondere Demokratie heißt, dass es Alternativen gibt, und eine Margret
Thatcher, die angefangen hat im neoliberalen Sinne der Formulierung 'There is no
alternative' zu suggerieren, man könne gar nicht anders Politik machen, auf
diese Art und Weise werden Menschen, die eigentlich andere Interessen haben und
die politisch sich wehren müssten gegen solche Versuche, den Sozialstaat zu
demontieren - die werden entmutigt, sie fallen in Resignation, weil ihnen
ständig auch in den Medien eingeredet wird, das sei eine Art naturgesetzliche
Entwicklung - nein das sind politische Entscheidungen, die genauso gut anders
fallen könnten, wenn entsprechender außerparlamentarischer Druck auf die
Regierenden ausgeübt würde."
Wolfgang Streeck gelangt in seiner
Analyse der letzten 40 Jahre zu einer pessimistischen Prognose: Demokratie und
Kapitalismus, die das Nachkriegsdeutschland in Gestalt der sozialen
Marktwirtschaft friedlich zusammengeführt hat, streben seit den 1970er-Jahren
auseinander - und dabei triumphiert der Kapitalismus über die Demokratie.
Demokratie und Kapitalismus hätten nie in einem harmonischen, sondern immer
schon in einem äußerst konfliktreichen Spannungsverhältnis zueinandergestanden,
meint Christoph Butterwegge:
"Was
zusammengehört sind Demokratie und Sozialstaat. Demokratie braucht in modernen
Gesellschaften einen entwickelten Sozialstaat. Wenn man unter Demokratie
versteht, dass alle Einwohner eines Landes entscheiden über die Zukunft eines
Landes, das heißt einbezogen sind in politische Willensbildung und
Entscheidungsprozesse, aber - und das gilt für 600.000 bis 800.000 Haushalte bei
uns im Jahr - wer fürchten muss, dass ihm Strom oder Gas abgestellt werden, oder
dass die Kinder im Dunkeln ihre Hausaufgabe machen sollen oder in der Kälte
eines Winters, wenn die Wohnung nicht mehr geheizt werden kann, wie soll denn
unter diesen Bedingungen Demokratie funktionieren. Also ist ein entwickelter
Sozialstaat die Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktionieren kann und alle
Versuche den Sozialstaat zu demontieren, sind im Grunde Bemühungen, die
Demokratie zu zerstören."
Für Butterwegge bildet der Sozialstaat
der 60er- und 70er-Jahre einen unverrückbaren Maßstab, ein Niveau, hinter das
man weder zurückfallen dürfe noch müsse. Dagegen relativieren andere
Sozialwissenschaftler wie Claus Offe die damalige Gestalt des Sozialstaats als
ein Produkt günstiger historischer Rahmenbedingungen. Claus Offe:
"Ich denke, dass Sozial- und Wirtschaftshistoriker heute
dazu neigen, die positiven Erfahrungen der 30 oder 25 Nachkriegsjahre, also die
positiven Erfahrungen des Westens im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts, für
eine Ausnahmeerscheinung zu halten, damals war es so, dass Demokratie und
Kapitalismus eine wohlgeordnete, stabile sich selbst tragende Synthese
eingegangen sind unter Bedingungen des Nachkriegsbooms, des Kalten Krieges, des
Systemgegensatzes zwischen Staatssozialismus und liberalem Kapitalismus unter
der Herrschaft einer keynesianischen Wirtschaftsdoktrin der Vollbeschäftigung -
das war ein Ausnahmezustand, der Mitte der 70er-Jahre an ein Ende gekommen
ist."
Christoph Butterwegge dagegen sieht Chancen für eine
Wiederherstellung des Sozialstaats auf hohem Niveau. Dafür fordert er:
"Die Einführung einer solidarischen
Bürgerversicherung. Alle Bevölkerungs¬gruppen einzubeziehen in den Sozialstaat,
verstanden jetzt als eine umfassende Sozialversicherung, also auch Freiberufler,
Selbstständige, Beamte, Abgeord¬nete und Minister, alle Einkommensarten zu
erfassen, nicht nur Lohn- und Gehaltseinkommen, sondern zum Beispiel auch
Dividendenzahlungen, Miet- und Pachterlöse, warum sollen die nicht 'verbeitragt'
werden - wie der Fachaus¬druck heißt, also einzahlen mit in die gesetzliche
Sozialversicherung. Wenn man das machen würde und wenn man auch an die
Beitragsbemessungsgrenze gehen würde, bzw. nicht irgendwo Solidarität zu
begrenzen bei einer bestimmten Einkommenshöhe von 5800 Euro im Monat im Westen
und 4900 Euro im Monat im Osten, würde man auch Millionärseinkommen mit
heranziehen, um den Sozialstaat zu finanzieren, dann wäre dieses Fundament des
Sozialstaates so stark wieder, dass damit auch ein Fundament für die Demokratie
geschaffen würde und damit die Gesellschaft sich auf eine andere Art und Weise
entwickeln könnte. Maßnahmen, die mehr soziale Gerechtigkeit schaffen statt
weniger."
Und auf europäischer Ebene? Claus Offe und Wolfgang
Streeck sind sich in der Analyse weitgehend einig. Die Einführung des Euro, das
heißt Länder mit sehr unterschiedlichen Wirtschafts- und Lebensverhältnissen in
eine Währungsge¬mein¬schaft zu bringen, war ein Fehler. Allerdings ziehen sie
daraus entgegengesetzte Konsequenzen. Offe plädiert für eine Fortsetzung und
Verbesserung des Europrojektes:
"Weil wir bei
einer Rückwärtsbewegung, Renationalisierung, es zu tun hätten mit noch
schlimmeren Zuständen in den südlichen Ländern. Aber auch mit einer Zerstörung
der Europäischen Union und ihrer Errungenschaften - um das krasse Beispiel
Griechenland zu nehmen, eine Rückkehr zur Drachme würde dazu führen, dass die
Schulden noch weniger tragfähig sind, weil das verbunden wäre mit einer
Abwertung, und die Schulden, die in Euro zurückgezahlt werden müssen, wären dann
noch teurer."
Wolfgang Streeck dagegen kann sich einen Rückbau der
Einheitswährung durchaus vorstellen. Und soziale Gerechtigkeit und Demokratie
sieht er nicht so sehr in Brüssel und bei der EU gewahrt, eher noch in den
Parlamenten des viel geschmähten Nationalstaats. Wolfgang Streeck:
"Vielleicht geht es darum, Zeit zu gewinnen und auf keinen
Fall denjenigen Folge zu leisten, die uns sagen: 'Gebt das, was ihr an
nationaler Demokratie habt, ab, weil ihr dann eine schönere, neuere,
wirkungsvollere supranationale Demokratie bekommt' - damit ist nicht zu rechnen.
Es ist eine Situation, in der diejenigen noch für Korrekturen dieses
liberalisierten Kapitalismus stehen, die alles tun, um das was an Resten
nationalstaatlicher Demokratie vorhanden ist, mit Klauen und Zähnen zu
verteidigen, und sich da nicht irgendwelche schönen Dinge der Zukunft
versprechen zu lassen, wo man bisher immer gesehen hat, dass das, was nach
Brüssel abwandert, in aller Regel wiederkommt als ein Gebot der Marktöffnung und
Liberalisierung, und nicht als Schutz vor den Kräften des
Marktes."